J. Feichtinger u.a. (Hg.): Die österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022

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Title
Die Österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022. Eine neue Akademiegeschichte


Editor(s)
Feichtinger, Johannes; Brigitte, Mazohl
Published
Wien 2022: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Extent
680 S.; 653 S.; 512 S.
by
Carlo Moos, Historisches Seminar, Neuzeit, Universität Zürich

Äusserlich handelt es sich um ein Monstrum in drei Teilen mit gegen 2000 Seiten und 5,5 Kilo schwer, inhaltlich jedoch um eine kollektive Grossleistung von 18 Autorinnen und Autoren, worin die Herausgeberin und besonders der Herausgeber dominieren, vor allem aber um eine selbstvergewissernde Gesamtdarstellung zum 175. Jahrestag einer eindrücklichen Wissenschaftsinstitution.

Die ersten zwei Bände sind chronologisch angelegt und erhellen mit vielen Querverweisen und einigen Überschneidungen den vielschichtigen Erfolgslauf einer – trotz ähnlicher anderer – einmaligen Institution mit vielen Höhen und traurigen Tiefen. Zu ersteren gehören die Wurzeln im Vormärz und früher und die Jahrzehnte bis zum Ersten Weltkrieg mit der Ausformung einer wissenschaftlichen Identität als Forschungsakademie dank einer Vielfalt von Expeditionen und Forschungsreisen bis in die Arktis und zunehmend internationalerer wissenschaftlicher Zusammenarbeit. In diese Phase fällt die Schaffung erster Institute wie das 1910 eröffnete für Radiumforschung. Besonders gelungen ist in diesem Kontext das Kapitel zu den Akademiejubiläen von 1872, 1897, 1922, 1947, 1972 und 1997, die jeweils Zwischenbilanzen und Selbstreflexionen ermöglichten (Kapitel 9).

Der Erste Weltkrieg brachte eine nachhaltige Zäsur, bot allerdings kriegsbedingt vorübergehend Möglichkeiten teils fragwürdiger Art wie rassisch kontextualisierte anthropologische und phonographische Untersuchungen an russischen Kriegsgefangenen, die sich 1939 fortsetzten, als 440 staatenlose Juden vor der Deportation «vermessen» wurden.

In die Schattenseiten gehört schon der «Ständestaat» (wie er leicht unreflektiert bezeichnet wird), als antisemitische und deutschnationale Haltungen in der Akademie vertreten waren, einzelne Neumitglieder aus dem Umfeld der verbotenen NSDAP stammten und sich der ideologische Boden für die NS-Machtübernahme vorbereitete. Vielschichtig und vorbildlich werden unter dem Titel «Niedergang» (Bd. II, S. 11–271) die dunklen Jahre unter dem Nationalsozialismus anhand neu ausgewerteter Archivquellen behandelt, als «Wissenschaft im Dienste des Deutschen Volkes» betrieben werden musste. Die Institutsleiter und alle Mitarbeiter jüdischer Herkunft wurden entlassen, insgesamt 45, von welchen 25 ins Ausland, vornehmlich in die USA, flohen und zumeist nicht mehr zurückkehrten; acht wurden ermordet. Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurden auch die Mitglieder jüdischer Herkunft ausgeschlossen (sechs ordentliche und 15 korrespondierende) und die Akademiekommissionen nazifiziert und an die ideologischen Ziele der Volkstums- und Rasseforschung angepasst; auch die Materialien aus den Kriegsgefangenenlagern des Ersten Weltkriegs wurden wieder verwertet. Nach der Befreiung Wiens durch die Rote Armee waren die dunklen Jahre nicht vorbei, weil NS-lastige Projekte weitergeführt wurden, so in der Sprach- und Volkstumsforschung oder in der Physischen Anthropologie, und personell kaum Schnitte vollzogen wurden. Während an der Hundertjahrfeier der Akademie 1947 Bundespräsident Karl Renner Österreichs Mitschuld ansprach, wies Akademievizepräsident Richard Meister jede Verantwortung zurück; die Akademie galt als unbefleckte, rein wissenschaftliche Institution.

Die ebenso breit angelegten übrigen Teile des zweiten Bandes widmen sich zunächst der Selbsterneuerung der Akademie nach 1945 und ihrer Neuerfindung im Kalten Krieg als friedlich koexistierende Forschungsträgerin mit zunehmend natur- und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Instituten zur Grundlagenforschung. Darauf folgen die weitgefächerten Forschungen der letzten 50 Jahre, als die Akademie nach Schaffung des neuen Wissenschaftsministeriums 1970 ihre Autonomie erfolgreich verteidigen konnte. Österreichs EU-Beitritt am 1. Januar 1995 bot Anlass zum Überdenken des Akademieaufbaus und zu verschiedenen Reformetappen bis zur Strukturreform von 2012 mit einer Reduktion der Forschungseinrichtungen (von 63 auf 28) und der Entflechtung der Gelehrtengesellschaft (rund 700 Gewählte) von den Forschungsträgern (über 1300 wissenschaftliche MitarbeiterInnen).

In diesem letzten halben Jahrhundert entwickelte sich die ÖAW zur grössten Trägerin ausseruniversitärer Grundlagenforschung in den Bereichen Geistes- und Kulturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Informationswissenschaften und Mathematik, Lebenswissenschaften (Medizin und Biologie) sowie Erd-/Technikwissenschaften und Physik. Auf Einzelheiten dieser kapillar (und teilweise stark aufzählend) präsentierten, gleichwohl eindrücklichen Erfolgsliste kann hier nicht eingegangen werden – ausser (im Blick auf den Erscheinungsort dieser Rezension) mit einem Hinweis auf die Historische Kommission, die das bahnbrechende Riesenwerk zur Geschichte der Habsburgermonarchie 1848–1918 betreute, das in 12 Bänden mit verschiedenen Doppelbänden zwischen 1973 und 2018 erschien. Mittlerweile liegt der Fokus, inspiriert vom Wiener Osteuropahistoriker Arnold Suppan, verstärkt auf dem 20. Jahrhundert.

Der dritte Band ergänzt zwei Einzelbereiche, zunächst das Fallbeispiel Umweltforschung, die in den frühen 1970ern eine rasche Institutionalisierung, 1995 bis 2005 aber eine seltsame Entinstitutionalisierung als «Dornröschenzeit» erfuhr. Vor allem dominiert als Hauptstück aber die hochproblematisierende «Frauengeschichte», die als «Störfall Gender» auf über 100 Seiten (Bd., III, S. 63–175) fast eine eigene Monographie zum Thema darstellt. Der Weg der Frau in die Akademie war lang. Nach weiblich administrativem Personal in der Verwaltung wurde erst 1948 mit der Physikerin Lise Meitner eine erste Frau korrespondierendes Mitglied und weitere 25 Jahre später (1973) die Atomforscherin Berta Karlik erstes wirkliches weibliches Mitglied. Die Folgezeit blieb ausgesprochen harzig, weil die allein wirklichen Mitglieder alle Männer waren. Erst ab den 1990ern und vornehmlich in den 2000ern lief alles beschleunigter, doch waren von den 754 Mitgliedern aller Kategorien noch 2020 nur 18,3 Prozent Frauen. Von ihnen war Brigitte Mazohl, Mitherausgeberin dieses Werks, 2013–2017 Präsidentin der phil.-hist. Klasse. Von im Jahr 2000 knapp 1000 Wissenschaftlichen Mitarbeitern in Kommissionen und Instituten war weniger als die Hälfe weiblich.

Zusätzlich bringt der Band wichtige Ergänzungen zur Bau- und Nutzungsgeschichte des Akademiegebäudes und zu den Standorten der Forschungseinrichtungen in Wien, Leoben, Graz, Linz und Innsbruck sowie in Rom (mit Aussenstelle Madrid), Bozen und verschiedenen Aussenstellen des Österr. Archäologischen Instituts. Weiter findet sich ein sehr nützlicher Dokumentationsteil mit einer repräsentativen Auswahl von 27 Quellen zur Akademiegeschichte seit 1837 sowie mit Listen zu den Forschungseinrichtungen, den Präsidenten und wirklichen Mitgliedern sowie mit Webapplikations-Auswertungen zu den Mitgliederzahlen oder dem Geschlechterverhältnis und der Altersstruktur, aber auch zur NSDAP-Zugehörigkeit oder zu den Nobelpreisträgern unter den Akademiemitgliedern. Zuletzt folgt eine Chronologie 1847–2022.

Die vorbildlich edierte Grossproduktion illustriert die enorme Vielseitigkeit einer 175-jährigen Institution und ihrer fast immer spannenden und teilweise schwierigen Geschichte überzeugend. Sie wurde vom Staat (primär der Kaiserstaat, dann die Republik) geschaffen und finanziert und zu guter Letzt auf dem Weg von Leistungsvereinbarungen in einen schönen Freiraum mit eigenem Gestaltungsspielraum ‹entlassen›: ein akademischer und wissenschaftsgeschichtlicher Glücksfall zum Zweck selbstbestimmter ausseruniversitärer Grundlagenforschung, auf den man aus einem nicht unähnlichen (wenngleich historisch anders situierten) Nachbarland nur mit Neid blicken kann.

Zitierweise:
Moos, Carlo: Rezension zu: Feichtinger, Johannes; Mazohl, Brigitte (Hg.): Die österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022. Eine neue Akademiegeschichte, 3 Bände, Wien 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 413-415. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.

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